Die Havelaue nördlich von Rathenow liegt bei Temperaturen um 0° unter einer dicken Hochnebeldecke. Die Luft ist feucht-kalt und das Land liegt still wie in Watte gepackt. Die von den ergiebigen und häufigen Regenfällen der vergangenen Tage überschwemmten Wiesen liegen unter einer brüchigen Eisdecke. Träge fließt die Havel zuerst gen Westen, dann ab Parey gen Norden. Das ist kein einladendes Wetter. Kein Schnee und auch kein Sonnenschein. Ideale Bedingungen für einen Naturfotografen. Ein Damm zu einer Schleuse scheint einladend. Ein paar Singvögeln hört man vereinzelt mit ihrem verhaltenen Zwitschern. Eine Trupp Meisen – Meisenschule hätte man früher gesagt – mit Sumpfmeisen (Poecile palustris), Kohlmeisen (Parus major) und Blaumeisen (Cyanistes caeruleus) fliegt am Deich entlang und sucht die dünnen und dicken Stämme der hier stehenden Pappeln, Weiden und auch die vielen Weißdörner (Crataegus monogyna) am Deichfuß nach Nahrung ab. Auch ein Kleiber (Sitta europaea), ein einzelner Gartenbaumläufer (Certhia brachydactyla) und sogar ein Wintergoldhähnchen (Regulus regulus) sind kurz zu sehen.
Besondere Aufmerksamkeit erzeugt aber ein ganz anderer Vogel. Ein kleiner schwarz-weißer Vogel mit roter Kappe: ein männlicher Kleinspecht (Dryobates minor) sucht die Zweige einer jungen Pappel ab. Die Pappel ist von oben bis unten mit Echtem Hopfen (Humulus lupulus) überwuchert. Zum Glück sitze ich in einem Wagen und bin dadurch keine zu offensichtliche Bedrohung für den kleinen Specht. Als ich mich langsam nähere, verschwindet der Kleinspecht flugs zwischen den herunterhängenden Ästen und bleibt eine Weile an den Ast geklammert verborgen. Geduld lohnt sich aber auch hier. Schließlich kommt der männliche Kleinspecht wieder hervor, inspiziert penibel die einzelnen Abschnitte der Äste und hackt dann immer wieder in das weiche Holz. Und siehe da: ein ansehnliche, weißliche „Made“ wird aus dem Holz gezogen.
Zum Nahrungserwerb bevorzugt der Kleinspecht dünne, oft schon dürre Zweige. Diese kommen meist im Kronenbereich vor. Daher ist der Kleinspecht häufig zu übersehen. Im Winter werden Weichhölzer wie Pappeln (Populus sp.) und Weiden (Salix sp.) aufgesucht, wo er überwinternde Insekten oder deren Larven aus den Ästen und Zweigen heraushackt, mit dem Pinzettenschnabel pickt und blitzschnell verschluckt. Auf den Bildern sieht man die rosa Zunge zwischen den nur einen Spalt breit geöffneten Schnabelhälften. Im beschriebenen Fall wurde das Männchen zur Mittagszeit über gut 20 Minuten an einer Pappel, die an einem Deich stand, beobachtet und fotografiert. In dieser Zeit war er mit seiner Suchtechnik äußerst erfolgreich. Ich zählte 6 Larven, die in dieser Zeit gefunden und verschlungen wurden.
Dieser Kleinspecht verhielt sich geradezu idealtypisch. Urs N. Glutz von Blotzheim beschreibt in seinem „Handbuch der Vögel Mitteleuropas“, Band 9 „Piciformes“ auf Seite 1108ff ausführlich sowohl die beobachtete Technik des Nahrungserwerbs, das bevorzugte Winterhabitat und sogar die Vergesellschaftung mit Meisentrupps wobei sogar die aufgezählten Vogelarten bis hin zu zum Baumläufer (Certhia sp.) und dem Wintergoldhähnchen (Regulus regulus) paßt.
Auch in langanhaltenden Wintern ernähren sich Kleinspechte (Dryobates minor; früher auch : Dendrocopos minor) vor allem von tierischer Nahrung (Insekten, Larven, Raupen). Im Winter wird die Nahrung unter Baumrinden und im Totholz gesucht. Die Winternahrung besteht aus unter der Rinde überwinternden Insekten. Es werden u.a. holzbewohnende Käfer-Larven gerne genommen.
Wenn Kleinspechte auf Nahrungssuche sind, scheinen sie den Schutz von dicht stehenden Zweigen zu suchen. Immer wieder verschwinden sie auch blitzschnell hinter einem dickeren Ast und kommen erst im Lauf der weiteren Beutesuche wieder zum Vorschein. Fotografieren ist da nicht einfach. Zwischendurch schauen sie immer wieder mal aufmerksam nach oben. Es könnte ja ein Sperber, eine andere Spechtart oder ein Artgenosse angreifen. Kleinspechte halten die Reviergrenzen ganzjährig aufrecht. Während der Brutzeit verteidigen beide Partner das Revier energisch, aber auch im Winter können sich Männchen mit revierfremden Männchen einen Kampf liefern. Es können sogar direkte Anflüge mit Körperkontakt vorkommen. Im Winter müssen Kleinspechte besonders wachsam sein. Hungrige Greife wie der Sperber (Accipiter nisus) und der Habicht (Accipiter gentilis) lauern überall.
Kleinspechte sind in Deutschland als Stand- und Strichvogel das ganze Jahr über zu beobachten. Im Herbst und Winter sind die Tiere auch abseits der Brutgebiete zu finden. Der Kleinspecht besiedelt parkartige Landschaften und lichte Laub- und Mischwälder, Weich- und Hartholzauen sowie feuchte Erlen- und Hainbuchenwälder mit einem hohen Alt- und Totholzanteil. Gerne erscheint er im Siedlungsbereich auch in strukturreichen Parkanlagen, alten Villengärten und ursprünglichen Hausgärten. Eine besondere Präferenz scheint er für Streuobstwiesen, also Obstgärten mit einem altem Baumbestand, zu zeigen.
Der Kleinspecht kommt in Deutschland praktisch in allen Naturräumen – außer den Hochalpen – vor. Im Tiefland ist er nahezu flächendeckend verbreitet. Im Bergland zeigen sich dagegen deutliche Verbreitungslücken. Die höchstgelegenen Beobachtungen gelangen mir im Vordertaunus auf ca. 400m NN. Hier zeigte der Kleinspecht – wie in der Brutzeit – ebenfalls eine Präferenz für Obstbäume wie Kirsche und Apfel.
Die Havelaue liegt im Nordwesten des Landkreises Havelland, rund 10 Kilometer nordwestlich von Rathenow und 70 Kilometer westlich von Berlin. Im Norden der Gemeinde liegt der Gülper See mit seinem Vogelreichtum.
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