Mit einem Stück Eis am Schnabel sitzt ein männlicher Erlenzeisig (Spinus spinus) im Baum. Es war ein ungewöhnlich kühler Märztag in dem kleinen Dorf am Rande des Waldes. Die Bewohner hatten gehofft, dass der Frühling bereits in vollem Gange wäre, doch die Natur schien sich noch nicht entschieden zu haben. Ein starker Wind blies durch die Bäume, während gelegentliche Graupel vom Himmel fielen sich auf dem Boden teils zu einem dünnen weißen Teppich sammelten.
Inmitten dieses wechselhaften Aprilwetters befand sich ein altes Futterhaus im Garten. Das Futterhaus war normalerweise ein ruhiger Ort, an dem die Vögel sich zum Fressen versammelten, während sie fröhlich zwitscherten und sich beim Besuch gegenseitig ablösten. Doch an diesem Tag war es anders.
Vielleicht hatte das kalte Wetter die natürlichen Nahrungsquellen der Vögel knapp werden lassen. Die Beerensträucher trugen noch keine Früchte, und die Würmer und Insekten hielten sich tief im Erdreich versteckt. Oder die Vögel sammelten sich für den Zug in die nördlichen Brutgebiete und mußten sich Vorräte anfressen. Die Vögel waren jedenfalls auf das Futterhaus angewiesen, um ihren Hunger zu stillen.
Als sich das Wetter weiter verschlechterte, begann sich ein Gedränge am Futterhaus zu bilden. Vögel aller Art – Erlenzeisige, Buchfinken (Fringilla coelebs), Rotkehlchen (Erithacus rubecula), Grünfinken (Chloris chloris), Stieglitze (Carduelis carduelis) und Feldsperlinge (Passer montanus) und sogar ein paar Amseln (Turdus merula) – versammelten sich in großer Zahl, um nach Nahrung zu suchen. Der Anblick war beeindruckend und zugleich ein wenig beunruhigend, denn das Futterhaus schien kaum genug Platz für alle zu bieten. Am Boden freuen sich die Goldammern (Emberiza citrinella) über die herausgeworfenen Reste.
Bei dem Gedränge wurden insbesondere die Erlenzeisige richtig aggressiv und manchmal kam es flügelschlagend zu richtigen Streitereien. Dabei zwitscherten und piepten die Vögel, teilten sich notgedrungen das verfügbare Futter und verteidigten vehement die Nahrungsquelle, damit sie nur ja nicht hungrig zurückblieben. Um sich von den kräftezehrenden Streitereien auszuruhen hatte manch einer der Erlenzeisige sich dann die Äste eines direkt über dem Futterhaus stehenden Gemeinen Flieders (Syringa vulgaris) als Rückzugsort gewählt. Dabei waren dann sehr nahe Fotoaufnahmen vom Badezimmer aus möglich.
Wenn man das Schauspiel durch das Fenster des gemütlichen Wohnzimmers beobachtete, konnte man auch den ein oder anderen seltenen Gast erkennen. So kam nicht nur ein einzelner Bergfink (Fringilla montifringilla), sondern auch drei Kernbeißer (Coccothraustes coccothraustes) zum Futterhaus. Sie verschwanden aber schnell nach jedem Besuch wieder.
Als die Dämmerung hereinbrach nahm das Gedränge langsam ab und es kehrte Ruhe in den Garten zurück. Doch das Bild des Massenandrangs so vieler verschiedener Vögel am Futterhaus bleibt noch lange in Erinnerung.
Tiefe Temperaturen und überraschendes Wetter bedeuten für viele Tiere Nahrungsengpässe. So sind gerade im zeitigen Frühjahr oder auch bei hoher Schneelage manch ungewöhnliche Verhaltensweisen zu beobachten.
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